
Bestiarium
Julio Cortázar
17.06.2025
"Wir fühlten uns wohl und hörten langsam auf zu denken. Man kann leben, ohne zu denken."
Beginnt man Julio Cortázars Kurzgeschichten zu lesen, spürt man sogleich Franz Kafkas Hand auf der Schulter. Was nicht verwundert, denn Letzterer war ein maßgeblicher Einfluss für die lateinamerikanische Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und so finden wir in Cortázars Kurzerzählungen auch jenes Gefühl des Falschen, des Unbehagens, welches Kafkas Werk innewohnt, dieses stetige Hintergrundflirren einer nicht genau bestimmbaren, aber antagonistischen Macht.
Doch während die Figuren bei Kafka sich dieser Macht in der Regel überaus bewusst sind, und wie die Protagonisten K. und Josef K. in "Das Schloss" und "Der Prozess" unter ihr leiden oder ihr gar entgegentreten, ist das bei Cortázar etwas anders. Dort sind sich die Figuren der Elemente des Falschen und Unheimlichen, die in ihre Alltagsrealität eindringen, nicht als Abnormalitäten bewusst – sie akzeptieren diese mitsamt der Konsequenzen ohne Zögern. Somit projiziert Cortázar den Moment der Irritation auf uns Leser, die wir mit unserer Verblüffung und unserem Erschrecken anstelle der Figuren treten, um mit unseren Fragen alleine gelassen zu werden. Das erzeugt einen ungemein eindringlichen Effekt, der nachhallt und es uns unmöglich macht, diese Geschichten zu vergessen. Cortázar sucht im Spiel von Fakt und Fiktion nach den "Zwischenräumen"; fordert uns auf, zu zweifeln.
ISBN_978-3-518-37043-8
Verlag_Suhrkamp
