Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois
Honorée Fanonne Jeffers
17.10.2022
"Wir sind die Erde, das Land. Die Zunge, die spricht und die stolpert über die Namen der Toten, wenn sie sich herantraut an die Ahnen einer Frau und an ihre Geschichten. An ihre Vorfahren, ihren Boden, ihre Bäume, ihr Wasser."
Zugegeben, ein wenig überstrapaziert ist der Begriff des "great american novel" mittlerweile schon, doch ungeachtet dessen eignet er sich, um den Debütroman der US-amerikanischen Schriftstellerin Honorée Fanonne Jeffers literarisch einzuordnen. Denn Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois erfüllt ausgezeichnet den künstlerischen Auftrag, der diesen "großen amerikanischen Romanen" zugeschrieben wird, nämlich einen Anlauf zu machen, um einen Teil dessen einzufangen, was die Seele dieser Nation ist – im Guten wie im Schlechten.
Das bedarf naturgemäß einer gewissen Ausführlichkeit, eines epischen Charakters und ist nicht auf wenigen Seiten erzählt. In Jeffers epochalem Roman steht die Geschichte der jungen Ailey im Vordergrund, die in eine Familie hineingeboren wird, denen Fleiß und Bildung einen Platz in der oberen Mittelschicht verschaffen konnten, doch deren Wurzeln nie vergessen werden. Eine Familie also, die folglich immer eine Art Doppelleben führt – als Amerikaner und als Menschen anderer Hautfarbe. Es sind diese afrikanischen, schottischen und indigenen Wurzeln, die in den im Roman eingestreuten "Liebesliedern" ergründet werden, denn die Familiengeschichte reicht bis zu den Anfängen dessen, was einst die Vereinigten Staaten von Amerika sein werden.
Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois ist ein brillanter Roman, eine überschäumende Familiensaga, die den Leser herausfordert und bereichert. Eine Odyssee durch die US-amerikanische Geschichte, die beeindruckend zeigt, wie die Entscheidungen der Vergangenheit die Zukunft gestalten; die zeigt, dass, wie es der große William Faulkner einst beschrieb, die Vergangenheit nicht tot ist, ja, nicht einmal vergangen.
ISBN_978-3-492-07012-6
Verlag_Piper